Radikalisierungsprävention in der Schule
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Interview mit Ralf Seifert, Berichterstatter der Kultusministerkonferenz (KMK) für Extremismusfragen.
(für Kürze und Lesbarkeit überarbeitet)
Wie Radikalisierung im schulischen Kontext begegnet werden kann, weiß Ralf Seifert. Als Berichterstatter der Kultusministerkonferenz für Extremismusfragen leitet er u.a. den länderübergreifenden Austausch zum schulischen Umgang mit Islamismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Die Beratungsstelle "Radikalisierung" hat sich mit ihm darüber ausgetauscht, wie Lehrkräfte an deutschen Schulen praktisch unterstützt werden können.
Welche Chancen bietet Radikalisierungsprävention in der Schule?
Im Video beschreibt Ralf Seifert den schulischen Auftrag zur Radikalisierungs- und Extremismusprävention.
Polarisierung im Spiegel der Schule
Schulen sind Spiegel der Gesellschaft: Sie reflektieren gesellschaftliche Entwicklungen. In diesem Zusammenhang würde mich Ihre Wahrnehmung interessieren: Wie erleben Sie gesellschaftliche Polarisierung und Radikalisierungsdynamiken, die sich auch im schulischen Alltag zeigen? Haben Sie dazu einen Eindruck?
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- Stiftung Mercator: Polarisierung in Deutschland und Europa - Eine Studie zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen in zehn europäischen Ländern
- Konrad Adenauer Stiftung: Politische Polarisierung in Deutschland - Repräsentative Studie zu Zusammenhalt in der Gesellschaft
- Bertelsmann Stiftung: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023: Perspektiven auf das Miteinander in herausfordernden Zeiten
- Deutsches Jugendinstitut: Politische Bildung
Es gibt nicht nur einen Eindruck, sondern es existieren mittlerweile viele Studien, die wir sehr aufmerksam verfolgen. Zudem stehen wir im Dialog mit den entsprechenden Forschungseinrichtungen, um zu verstehen: Was bedeuten diese Daten und wie können wir sie für eine wirksame pädagogische Reaktion nutzen? Wie Sie bereits angedeutet haben, ist es offensichtlich, dass gesellschaftliche Diskurse an Schärfe gewonnen haben. Theoretische Debatten, die früher abstrakt geführt wurden, sind heute in vielen Lebensbereichen, darunter auch in Schulen, präsent. Diese Diskurse sind häufig wertorientiert und lassen sich teilweise als eine Art Kulturkampf beschreiben. Diese Entwicklung wird oft durch Krisen und Konflikte verstärkt, auf die es keine einfachen Lösungen gibt. Viele Menschen sind verunsichert, was zu einer Sehnsucht nach einfachen Antworten führt, die sich häufig in populistischen und antidemokratischen Strömungen äußern. Diese Dynamiken spiegeln sich natürlich auch im schulischen Kontext wider.
In allen 16 Schulgesetzen der Bundesländer ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag mit einem klaren Bezug zum Grundgesetz, zur jeweiligen Landesverfassung und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung verankert. Lange Zeit war es selbstverständlich, dass diese Werte von allen geteilt werden. Heute wird dieser Konsens infrage gestellt, was für Pädagoginnen und Pädagogen eine große Herausforderung darstellt. Die Frage lautet nun: Wie können wir das im schulischen Kontext auffangen? Darauf haben wir reagiert, und ich kann Ihnen später genauer erläutern, wie. Wichtig ist aber zu betonen: Schule allein wird das nicht bewältigen können. Ohne Erziehungspartnerschaften und die Einbindung der sozialen Umgebung der Schüler ist es unmöglich, diese Herausforderungen zu meistern. Es ist eine unrealistische Erwartung, die Schule als Reparaturanstalt zu betrachten, die alle gesellschaftlichen Probleme löst. Schule kann und sollte Diskussionen anstoßen, aber sie benötigt auch Unterstützung von außen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dennoch sehe ich eine große Chance in der Schule, da sie Schülerinnen und Schüler aus familiären und sozialen Filterblasen herausführen und mit unterschiedlichen Perspektiven konfrontieren kann. Jedoch braucht es eine enge Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, um diese Chance auch effektiv zu nutzen.
Sie haben bereits viele Herausforderungen angesprochen. Gibt es dennoch positive Entwicklungen, auf die man blicken kann?
Gerade weil die Situation Menschen zwingt, Stellung zu beziehen, sehe ich auch positive Aspekte. Man kann sich heute nicht mehr durchwinden, ohne sich zu positionieren. Diese Notwendigkeit der Positionierung zeigt sich sowohl in Familien als auch im Freundeskreis. Viele Menschen haben sich auch aus sozialen Netzwerken zurückgezogen, weil sie es nicht mehr ertragen konnten. Dennoch sehe ich auch eine Chance darin, dass die aufgeregten gesellschaftlichen Debatten während der Corona-Zeit viele dazu motiviert haben, aktiv zu werden. Das gilt auch für den schulischen Bereich, wo Lehrkräfte, die sich früher ausschließlich als Fachlehrer oder Fachlehrerin verstanden, zunehmend erkennen, dass ihre Rolle über den reinen Fachunterricht hinausgeht. Das gibt mir Hoffnung.
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Auch von Schülervertretungen gibt es klare Stellungnahmen, beispielsweise von den Landesschülerräten der fünf ostdeutschen Bundesländer, die sich deutlich gegen Rechtsextremismus positioniert haben. Elternvertreter, Gewerkschaften und Interessensverbände engagieren sich ebenfalls stärker. Eine neue Studie, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Mehrheit junger Menschen sich mehr politische Informationen in der Schule wünscht. Diese Studie, durchgeführt von der Liz Mohn Stiftung in Zusammenarbeit mit Ipsos, befragte Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren zu Themen wie Zukunft und Gesellschaft. Erstaunlich ist, dass 53 % der Befragten optimistisch in die Zukunft blicken. 83 % gaben an, dass sie sich für die Meinungsfreiheit einsetzen würden, und 64 % sind der Meinung, dass man lernen muss, sich gesellschaftlich zu engagieren. Das ist ermutigend und zeigt, dass junge Menschen die Bedeutung von Freiheit und Verantwortung verstehen.
Das klingt tatsächlich sehr positiv. Vor allem der Wunsch nach mehr politischer Bildung und Medienkompetenz ist ermutigend.
Laut der Studie haben viele Kinder und Jugendliche aktuell Ängste, insbesondere im Zusammenhang mit den Konflikten in Gaza und der Ukraine. Diese Ängste beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung und müssen auch in der Schule thematisiert werden. Über die Kultusministerkonferenz (KMK) haben die Ministerinnen und Minister rasch auf den Ukraine-Krieg und die Eskalationen des Nahostkonflikts reagiert. Sie haben Briefe an die Schulen geschickt und dazu ermutigt, diese aktuellen Themen in kontroversen Diskussionen aufzugreifen und den Schülern Raum zu geben, über ihre Ängste zu sprechen. Auch wenn Angst als Motivator in der politischen Bildung umstritten ist, halte ich es für wichtig, diese Ängste sichtbar zu machen und sie in konstruktive Diskussionen einzubinden.
Umgang mit extremistischen Handlungen im Unterricht
Was würden Sie Lehrkräften empfehlen, die feststellen, dass antisemitische Positionen im Unterricht vertreten werden? Zum Beispiel, wenn ein Schüler solche Positionen stark vertritt und andere unter Druck setzt, sich anzuschließen?
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Das Thema Antisemitismus erfordert besondere Sensibilität. Es gibt eine laufende Debatte darüber, ob Antisemitismus als eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gesehen werden sollte oder ob er aufgrund seiner historischen Genese eine besondere Form der Abwertung darstellt. In Sachsen haben wir uns klar positioniert und verfolgen Antisemitismus besonders konsequent. Wir haben uns der internationalen Definition von Antisemitismus angeschlossen und in der KMK den Dreischritt "Erkennen, Benennen und Entgegentreten" entwickelt, der für uns handlungsleitend ist.
In konkreten Fällen sensibilisieren wir Lehrkräfte und bieten Qualifizierungsmaßnahmen an. So haben wir zum Beispiel einen Flyer entwickelt, der die unterschiedlichen Formen des Antisemitismus erklärt und Handlungsmöglichkeiten aufzeigt. Grundsätzlich gilt: Jeder antisemitische Vorfall muss sichtbar gemacht werden, unabhängig davon, ob er strafrechtlich relevant ist oder nicht.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass antisemitische Aussagen nie unwidersprochen bleiben dürfen. Wir fordern Lehrkräfte auf, sofort eine Gegenposition zu formulieren. Es ist eine gesamtpädagogische Aufgabe, unabhängig vom Fach oder der Schulart.
Zudem ist es besonders wichtig, die Opferperspektive in den Mittelpunkt zu stellen. Lehrkräfte sollten den Schutzraum für Betroffene schaffen und ihnen Unterstützung anbieten. Abschließend sollte unbedingt eine kollegiale Öffentlichkeit hergestellt werden. Lehrkräfte sollten sich mit Kolleginnen und Kollegen oder der Schulleitung austauschen, um sicherzustellen, dass der Vorfall im schulischen Umfeld angemessen bearbeitet wird.
Ich denke, das ist für Lehrkräfte eine wertvolle Orientierungshilfe. Gibt es Rückmeldungen, wie gut diese Maßnahmen in der Praxis funktionieren?
Wir bekommen aus verschiedenen Kontexten Rückmeldungen. Gerade wenn Betroffene im Raum sind, gibt es oft eine starke Solidarität, vor allem aus den Peergroups heraus. Schwieriger wird es, wenn antisemitische Äußerungen in Abwesenheit von Betroffenen gemacht werden. Hier ist die Bereitschaft, sich dagegen zu positionieren, oft geringer. Aber wir betonen: Jede Form von Abwertung muss thematisiert und eine Gegenposition formuliert werden.
Betroffene Gruppen wünschen sich oft noch stärkere Unterstützung, insbesondere in der Lehrerfortbildung. Es geht darum, Lehrkräfte für die besonderen Herausforderungen zu sensibilisieren, die bestimmte Gruppen im schulischen Alltag erleben. Nur mit dieser Sensibilität können Lehrkräfte den notwendigen Schutz und die Unterstützung bieten, die Betroffene benötigen, um möglichst unbeschadet durch solche Situationen zu kommen.
Meldeketten bei extremistischen Vorfällen
Im Video erklärt Ralf Seifert länderspezifische Meldeketten.
Welche zentralen Herausforderungen gibt es aktuell in diesem Bereich?
Ein großes Thema ist aktuell die Sichtbarmachung von problematischen Situationen an Schulen, wir sprechen hier intern von „Meldeketten“. Das heißt, wie können Schulen Vorfälle – egal welchen Hintergrunds – sichtbar machen? Denn nur wenn wir Probleme sichtbar machen, können wir sie auch angehen. Unsere Botschaft an die Schulleitungen lautet: "Es ist kein Makel, wenn an eurer Schule Probleme auftreten. Meldet sie, damit wir gemeinsam an Lösungen arbeiten können."
Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie Meldeketten funktionieren können. In Sachsen ist das Meldeverfahren so organisiert, dass die Schulleitung über ein Online-Formular der Schulaufsicht meldet, was vorgefallen ist und wie die Schule darauf reagiert hat. Auf diese Weise können wir einen Überblick über die Lage im Freistaat gewinnen und gezielt reagieren – natürlich nur, wenn die Schule Unterstützung wünscht. Es ist wichtig zu betonen, dass die Schulen eigenverantwortlich entscheiden, ob und wie sie externe Unterstützung in Anspruch nehmen möchten.
Ich kann mir gut vorstellen, dass das für Lehrkräfte eine Erleichterung ist, wenn sie wissen, an wen sie sich wenden können. Gibt es dazu Rückmeldungen?
Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. In einigen Bundesländern gibt es niedrigschwellige Meldesysteme, bei denen jeder schulische Akteur – ob Schüler, Eltern oder Lehrkräfte – Vorfälle melden kann. In Sachsen erfolgt die Meldung jedoch über die Schulleitung. Die Lehrkräfte fühlen sich oft sicherer, wenn sie wissen, dass sie durch eine solche Meldekette unterstützt werden und nicht alleine dastehen. Es geht dabei nicht nur um die Meldung von Vorfällen, sondern auch um die Möglichkeit, Unterstützung bei der Bearbeitung solcher Vorfälle zu erhalten.
Unterstützungsstrukturen für Lehrkräfte
Im Video zeigt Ralf Seifert Unterstützungsstrukturen für Lehrkräfte auf.
Wie sieht es mit Unterstützungsstrukturen für Lehrkräfte aus, die mit diesen Themen konfrontiert sind? Gerade im Hinblick auf Radikalisierungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen?
In Sachsen haben wir festgestellt, dass viele Lehrkräfte das Gefühl haben, nicht ausreichend vorbereitet zu sein, um mit kontroversen Themen umzugehen. Deshalb haben wir Maßnahmen ergriffen, um die Lehrkräfteausbildung zu verbessern. Zum Beispiel haben wir in der ersten Ausbildungsphase an den Universitäten Leipzig, Chemnitz und Dresden Ergänzungsstudien eingeführt, die sich mit dem Beutelsbacher Konsens und Grundrechtsklarheit befassen. Auch im Referendariat haben wir verpflichtende Module zu Themen wie Selbstbild, pädagogischem Ethos und Werteorientierung integriert. Ziel ist es, den angehenden Lehrkräften das notwendige Handwerkszeug zu vermitteln, um im schulischen Alltag mit diesen Herausforderungen umgehen zu können.
Darüber hinaus haben wir auch die Fortbildung von Führungskräften im Schulbereich gestärkt. Alle angehenden und amtierenden Schulleiterinnen und Schulleiter erhalten ein berufsbegleitendes Coaching, in dem Themen wie demokratische Schulentwicklung und der Umgang mit diskriminierenden Positionen behandelt werden. Zusätzlich bieten wir Online-Materialien und E-Learning-Module an, um Lehrkräfte bei Bedarf weiterzubilden. Schulen haben inzwischen auch eigene Budgets, um externe Experten für Fortbildungen zu engagieren.
Schulleitungen spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie das Hausrecht ausüben und ihre Kolleginnen und Kollegen unterstützen können. Wir arbeiten intensiv mit ihnen zusammen, um Schulen im Sinne eines gemeinsamen Wertekonsenses weiterzuentwickeln.
Der Aspekt des kontroversen Diskutierens scheint mir besonders anspruchsvoll. Wie kann das konkret aussehen? Geht es dabei darum, scharf in der Sache, aber respektvoll im Umgang zu diskutieren?
Absolut. Gewaltfreie Kommunikation und Wertschätzung sind dabei grundlegend. Dennoch ist es wichtig, klar Position zu beziehen. Unsere Kampagne „W wie Werte – Bildung braucht Haltung“ betont genau das: sich innerhalb eines gemeinsamen Wertekanons klar zu positionieren. Diskurse sollten innerhalb eines Rahmens stattfinden, der die zentralen Grundwerte unserer Gesellschaft respektiert. Es geht darum, verschiedene Perspektiven zuzulassen und komplexe Sachverhalte mehrdimensional zu betrachten, ohne sich auf extreme Positionen zu versteifen.
In der politischen Bildung geht es letztlich darum, dass Schülerinnen und Schüler zu einem fundierten, eigenen Urteil gelangen. Das ist ein anspruchsvoller Prozess, den Lehrkräfte moderieren müssen. Es erfordert viel Zeit und Geduld, diese Fähigkeiten zu entwickeln, besonders in einer Unterrichtseinheit von nur 45 Minuten.
Da gehört für Lehrkräfte sicherlich auch dazu, Fehler zu akzeptieren, oder? Also, wirklich zu sagen: "Auch ich mache Fehler. Ihr als Schüler und ich als Lehrerin – vielleicht treffe ich nicht immer den richtigen Ton, aber wir müssen im Gespräch bleiben.“ Habe ich das richtig verstanden?
Auf jeden Fall. Das ist ein Gebot der Stunde, wenn wir über Kritik- und Streitkultur sprechen. Kritik- und Streitkultur ist nicht nur in gesellschaftlichen Situationen wichtig, in denen man aufhört, konstruktiv zu streiten, sondern es geht auch darum, wie viel Kritik man selbst erträgt. Oft beanspruchen wir das Recht, andere zu kritisieren, aber wie gehen wir mit Kritik um, die an uns, unserem Verhalten oder unserer Haltung geübt wird? Ich denke, es gehört nicht in erster Linie in den schulischen Rahmen, die grundlegende Haltung eines Menschen zu kritisieren. Aber die Handlungen sollte man auf jeden Fall kritisch reflektieren. Das fördert partizipative Schulentwicklung, und genau das muss gelernt werden. Wir sehen das auch in der zweiten Ausbildungsphase, wenn Lehrkräfte an die Schulen kommen und manchmal unsicher sind, wie man mit Kritik umgeht.
Sie haben den Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erwähnt. Mich würde interessieren, ob es Unterschiede bei den Unterstützungsstrukturen gibt, wenn man etwa auf Islamismus, Rechtsextremismus, Linksextremismus und andere extreme Positionen schaut. Haben Sie da Einblicke?
Ja, das ist sehr interessant. In den Runden mit meinen Kollegen aus anderen Bundesländern sehen wir sehr unterschiedliche Herausforderungen und Entwicklungen. Diese Unterschiede führen zu unterschiedlichen Maßnahmen im Umgang mit bestimmten Phänomenen. Andererseits ist die Methodik in vielen Bereichen so vergleichbar, dass man durchaus sagen kann, es gibt gemeinsame Ansätze in der Prävention – sowohl in der primären als auch in der sekundären Prävention. Auch wenn die regionalen Entwicklungslinien unterschiedlich sind, zeigen sich bei der praktischen Umsetzung oft ähnliche Muster. Die Länder haben unterschiedliche Prioritäten gesetzt, und manche haben inzwischen eine hohe Sensibilität entwickelt, oft durch schmerzhafte gesellschaftliche Prozesse. Was jedoch in allen Ländern vergleichbar ist, ist die Erkenntnis, dass es nur durch Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft, staatlichen Institutionen und anderen Ressorts funktioniert. Alle Länder haben verstanden, dass man das Problem nicht allein über den Bildungssektor lösen kann. Strukturell gibt es inzwischen Meldesysteme, Clearingstellen, Beratungsnetzwerke und ressortübergreifende Zusammenarbeit in allen Bundesländern. Auch wenn Sachsen und Nordrhein-Westfalen über unterschiedliche Phänomene diskutieren, sind die Handlungsansätze in den Schulen oft vergleichbar. Das gibt den Kollegen, die nach individuellen Landeslösungen suchen, Hoffnung, weil sie sehen, dass es vergleichbare und adaptierbare Vorgehensweisen gibt.
Sie sprachen gerade davon, dass sich die Phänomene ähneln. Wie sieht es auf der Bedürfnisebene aus? Woher kommt das Bedürfnis, etwa rechtsextreme oder islamistische Äußerungen zu machen?
Das hängt stark damit zusammen, wie klar und unsanktioniert man bestimmte Dinge tun kann. Wir müssen dabei auch auf die Corona-Zeit zurückblicken, die wie ein Beschleuniger für viele Radikalisierungsphänomene wirkte. Teilöffentlichkeiten bildeten sich heraus, die ihren eigenen Anspruch auf Wahrheit und Wirklichkeit hatten, oft mit verschwörungstheoretischen Ansätzen. Diese Teilöffentlichkeiten polarisieren und lehnen auf einmal Dinge ab, die vorher allgemein als wissenschaftlich fundiert und plausibel galten. Das betrifft viele unterschiedliche Milieus. Was wir daraus lernen, ist, dass wir in den Schulen mehr Zeit brauchen, um diese Aufgeregtheiten zu bearbeiten und wieder faktenbasiert miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Schule kann eine große Rolle spielen, aber dafür müssen Lehrkräfte Handlungssicherheit haben und sich unterstützt fühlen. In einigen Bundesländern, wie beispielsweise Brandenburg oder Sachsen, haben Lehrkräfte berichtet, dass sie sich in schwierigen Situationen nicht ausreichend vom Schulsystem unterstützt fühlten. Deshalb haben wir in Sachsen vor den Sommerferien alle Schulreferenten in Schnellqualifizierungsmodulen geschult, um Lehrkräften auch rechtlichen Beistand zu bieten.
Materialien für Lehrkräfte
Sie haben uns bereits viel über die Unterstützungsstrukturen in Sachsen erzählt und auch einen Vergleich zu anderen Bundesländern gezogen. Wenn ich das richtig verstehe, gibt es durchaus Unterschiede zwischen den Ländern, aber man lernt schnell voneinander, wenn etwas gut funktioniert. Was ich jetzt besonders für Lehrkräfte interessant finde: Es gibt diese Fallbeispielsammlungen. Können Sie darüber mehr erzählen? Wie können Lehrkräfte diese nutzen, und inwiefern helfen sie?
Die Fallbeispielsammlung ist ein Material, das in verschiedenen Formaten verfügbar ist – sowohl digital als auch analog. Der Hintergrund ist folgender: Ich habe vorhin bereits über die Meldeketten für besondere Vorkommnisse gesprochen. Es gibt viele Kategorien, die bei solchen Vorkommnissen gemeldet werden können, eine davon ist der Umgang mit radikal-extremistischen Positionen. Viele fragten sich damals, welchen Mehrwert das Melden dieser Vorkommnisse eigentlich hat, da auf den ersten Blick nichts passierte. Wir haben uns dann die gemeldeten Vorfälle genauer angeschaut und festgestellt, dass es bestimmte Muster gibt. Also haben wir überlegt, wie man darauf situativ angemessen und schnell reagieren kann.
Zunächst haben wir fünf, später zehn und mittlerweile etwa 20 dieser Vorfälle analysiert. In unserer Sammlung bieten wir Ansätze aus pädagogischer, schulrechtlicher und strafrechtlicher Perspektive, ergänzt durch externe Beratungsangebote und Materialien. Die neueste Version steht kostenlos auf unserer Website zur Verfügung. Einige andere Bundesländer haben inzwischen eigene Sammlungen erstellt, inspiriert von unseren Ansätzen. Wir begleiten das zudem mit Lehrerfortbildungen, die sehr gefragt sind, insbesondere von Schulleitungen. Sie finden es interessant, diese Fälle nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus pädagogischer Sicht zu beleuchten.
Und das Zweite, wo es immer wieder eine große Unsicherheit gab, ist der Begriff der Neutralität. Es gab Versuche antidemokratischer Strömungen und Parteien, Meldeportale zu installieren, wenn Schulen sich angeblich nicht neutral verhalten. Und das war immer der Duktus: Schule muss neutral sein. Und wir sagen: Schule darf nicht neutral sein. Das sagen wir klipp und klar und leiten das auch her aus der Schulgesetzgebung und aus anderen Gesetzgebungssituationen und Erlasslagen und haben dafür ein kleines Pocket-Format gemacht, das heißt "'Neutralität' der Schule", Neutralität in Anführungsstrichen, und leiten her, warum es das Gebot der Stunde ist, dass Schulen werteorientiert lehren und lernen und dass die Schüler und Schülerinnen werteorientiert Erziehung und Bildung erfahren. Das haben wir lange nicht gemacht. Wir haben gesagt, also lasst uns mal bitte so neutral wie möglich sein. Aber das ist tatsächlich ein falsch verstandenes Neutralitätsverständnis und wir versuchen eine Handlungssicherheit zu geben. Die Broschüre ist flankiert mit Fortbildungen für schulische Führungskräfte.
Perspektive der Schülerinnen und Schüler
Das ist spannend, vor allem weil es an den Korridor erinnert, den Sie zuvor erwähnt haben. Neutralität bedeutet hier vielleicht, dass man nicht zwingend eine feste Position einnehmen muss, aber es gibt Grenzen – etwa wenn eine Position menschenfeindlich wird. Nun haben wir viel über die Unterstützung der Lehrkräfte gesprochen. Wie sieht es aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler aus? Was brauchen sie?
Das ist die zentrale Frage, denn letztlich machen wir Schule ja, um in die Gesellschaft und ihre Zukunft zu investieren. Es geht darum, wie wir miteinander lernen und leben wollen. Aus diesem Grund müssen wir die Bedürfnisse der betroffenen Schülerinnen und Schüler von Anfang an in den Mittelpunkt stellen. Partizipation zu ermöglichen ist jedoch nicht einfach, besonders in einem stark regulierten und formalisierten Bildungssystem. Es ist eine große Herausforderung, die Zielgruppe wirklich auf Augenhöhe anzuhören und angemessen zu reagieren.
Selbstwirksamkeit ist ein zentrales Stichwort. Studien belegen, dass frühe Erfahrungen von Selbstwirksamkeit die Resilienz im späteren Leben stärken. Es ist also wichtig, dass wir nicht nur kognitive, sondern auch Lebensräume in der Schule schaffen, in denen junge Menschen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Konfliktfähigkeit machen können. Nur so können sie lernen, gewaltfreie Lösungen zu entwickeln und mit Stresssituationen umzugehen.
In Sachsen haben wir auf Basis des Sachsen Monitors 2016 – der unter anderem eine große Distanz junger Menschen zu gesellschaftlichen Institutionen und demokratischen Prozessen aufzeigte – ein Programm namens "W wie WERTE" entwickelt.
Es fördert politische Bildung und demokratische Schulentwicklung und bindet Schülerinnen und Schüler aktiv ein. Wir haben das in Zusammenarbeit mit dem Landeselternrat und dem Landesschülerrat erarbeitet und eine enge Partnerschaft aufgebaut, die die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt.
Das klingt nach einem wichtigen Schritt. Wie sieht es speziell bei Schülerinnen und Schülern aus, die mit religiös begründeten Radikalisierungen konfrontiert sind? Gibt es dort besondere Bedürfnisse?
Bei diesem Thema gibt es eine breite Palette an Unterstützungsmöglichkeiten. Wichtig ist, dass wir keine Pauschallösungen haben, sondern auf die jeweilige Situation eingehen. Wir arbeiten eng mit dem Landesschülerrat und lokalen Strukturen zusammen, um sicherzustellen, dass betroffene Schülerinnen und Schüler die passenden Partner in ihrer Region finden. Diese Partizipation und Eigenverantwortung stärkt die Jugendlichen und hilft ihnen, sich mit den Herausforderungen ihrer Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen. Dabei gehen wir sehr sensibel und vorsichtig vor, um keine zusätzlichen Gefährdungen zu schaffen. Diesen Ansatz diskutieren wir auch auf Bundesebene, um länderübergreifende Lösungen zu finden.
Zusammenarbeit der Bundesländer
Im Video erläutert Ralf Seifert, wie Bundesländer in der Extremismusprävention voneinander lernen.
Gibt es starke Unterschiede in der Unterstützung von Lehrkräften und Strukturen in den verschiedenen Bundesländern?
Ja, es gibt Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten. In Sachsen haben wir das Programm „Starke Lehrer – Starke Schüler“ entwickelt. Es wurde von der TU Dresden gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung initiiert, um den Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an berufsbildenden Schulen zu verbessern. Dabei wurden individuelle Empowerment-Settings für Lehrkräfte geschaffen, inklusive Supervision und Coaching. Dieses Setting war sehr arbeitsintensiv, aber auch sehr erfolgreich. Es wurde in anderen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Hessen übernommen. In Sachsen haben wir es inzwischen zu einem Landesprogramm ausgebaut, das über 100 Schulen erreicht. Ein Schlüssel zum Erfolg ist die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie der Amadeo Antonio Stiftung oder dem Ariowitsch-Haus in Leipzig.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden in diesem Kontext?
Die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden läuft in Sachsen im Rahmen des „Demokratiezentrums“, das eine Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (KORA) beinhaltet. Dort sitzen wir gemeinsam mit dem Verfassungsschutz, dem Landeskriminalamt und anderen Akteuren, um aktuelle Fallzahlen und regionale Entwicklungen zu besprechen. Ein wichtiges Programm ist „Prävention im Team“, das regionale Kooperationen zwischen Schulaufsicht, Polizei und Kommunen fördert. Diese Zusammenarbeit hat sich als vertrauensvoll und belastbar erwiesen, was entscheidend ist, um multiperspektivisch vorzugehen und die Schulen bestmöglich zu unterstützen.
Was bedeutet "geschützter Raum" in dem Moment? Also, dass ich sagen kann, was ich denke, ohne gleich "attackiert" zu werden?
Nein, ein geschützter Raum bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es manchmal um sensible Daten oder personenbezogene Informationen geht, die in einem wirklich geschützten Rahmen besprochen werden müssen. Wenn es beispielsweise um Rückkehrer- oder Aussteigerbiografien geht, erfordert das ein hohes Maß an Sensibilität. Dabei geht es nicht nur um den Datenschutz, sondern um den sorgfältigen Umgang mit diesen Lebensgeschichten. Für uns war das anfangs auch Neuland, denn wo sich Sicherheitskräfte und Behörden abgesprochen haben, war dies für uns im schulischen Kontext eine völlig andere Welt. Mittlerweile sind wir in einer gemeinsamen Realität angekommen, in der wir diese Themen gemeinsam diskutieren können. Das meine ich mit "geschütztem Raum": Es braucht nicht immer eine sofortige Öffentlichkeit, wenn man sensible Reflexionsprozesse durchläuft, sondern man muss vertrauensvoll und kollegial darüber sprechen können.
Radikalisierungsprävention aus Perspektive der Kultusministerkonferenz
Im Video spricht Ralf Seifert über die Aufgaben der Kultusministerkonferenz.
Sie arbeiten hauptamtlich im Referat für politische Bildung, Migration und Bildung für nachhaltige Entwicklung im sächsischen Staatsministerium für Kultus. Heute sprechen Sie jedoch in Ihrer Funktion als Berichterstatter für Extremismusfragen der Kultusministerkonferenz mit uns. Können Sie uns zunächst kurz erläutern, was genau ein KMK-Berichterstatter macht?
Hinweis
In der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (kurz: Kultusministerkonferenz/KMK) arbeiten die für Bildung und Erziehung, Hochschulen und Forschung sowie kulturelle Angelegenheiten zuständigen Ministerinnen und Minister bzw. Senatorinnen und Senatoren der Länder zusammen. Dabei nehmen die Länder ihre Verantwortung für das Staatsganze selbstkoordinierend wahr. In Angelegenheiten von länderübergreifender Bedeutung sorgen sie für das notwendige Maß an Gemeinsamkeit in Bildung, Wissenschaft und Kultur.
Zunächst ist es vielleicht hilfreich zu verstehen, warum es die Kultusministerkonferenz (KMK) überhaupt gibt. In Deutschland liegt die Bildungs- und Kulturpolitik in der Verantwortung der Bundesländer, was im Grundgesetz verankert ist. Damit dennoch vergleichbare Bildungsstandards und Abschlüsse existieren, wurde 1948 die KMK gegründet. In der KMK treffen sich die 16 Kultusministerinnen und -minister bzw. Senatorinnen und Senatoren der Länder regelmäßig, um über Bildungsschwerpunkte zu beraten und sicherzustellen, dass etwa Kinder, die in ein anderes Bundesland ziehen, ihre Bildungslaufbahn fortsetzen können.
Die KMK ist inzwischen ein großer und komplexer Apparat, mit verschiedenen Gremien wie dem Schulausschuss oder dem regelmäßigen Treffen der Amtschefs. Ein wichtiges Element innerhalb der KMK ist die sogenannte Fundusliste, auf der 212 Berichterstatter und Berichterstatterinnen eingetragen sind, die jeweils für spezifische Themen verantwortlich sind, etwa Fächer wie Geografie oder Ethik, aber auch für Ferienregelungen oder Schulfahrten.
Sachsen hat 12 solcher Berichterstattungsmandate, und eines davon habe ich im Bereich der Extremismusprävention inne. Als Berichterstatter bringe ich die Kolleginnen und Kollegen aus den 15 anderen Ländern sowie das KMK-Sekretariat zusammen, um länderübergreifend Lösungen für gemeinsame Herausforderungen zu entwickeln. Für das Thema Extremismusprävention organisieren wir zwei Treffen im Jahr, einmal digital und einmal in Präsenz. Wir besprechen aktuelle Schwerpunkte, zum Beispiel neue Studien oder den Umgang mit extremistischen Bedrohungen an Schulen.
In meiner Rolle bin ich auch in Arbeitsgruppen wie der ständigen AG Antisemitismus der KMK tätig, wo wir zusammen mit dem Zentralrat der Juden Maßnahmen gegen Antisemitismus an Schulen entwickeln. Zudem arbeite ich an Papieren zur Demokratiebildung mit. Es ist eine sehr vielfältige Aufgabe und eine große Ehre, diese Themen mitgestalten zu dürfen.
Vielen Dank für diese spannenden Einblicke und die umfangreichen Erklärungen!