Projekteinblicke: Grüner Vogel e.V. – die Arbeit der Beratungsstelle Leben , , Deradikalisierung und Ausstieg aus dem Salafismus und Jihadismus
Die Beratungsstelle Leben des Vereins Grüner Vogel e.V. bietet kostenfreie, niedrigschwellige Beratung für Angehörige und Ausstiegswillige aus der salafistischen und jihadistischen Szene. Doch wie genau funktioniert die Beratung? Wie arbeitet das Team um Leiterin Claudia Dantschke?
Quelle: Grüner Vogel e. V.
Das Hotline-Telefon klingelt. Am Apparat eine Mutter, die sich um ihre junge Tochter sorgt: sie befürchtet eine drohende Radikalisierung. Zu Beginn des Gesprächs bestätigt die Beraterin, dass der Griff zum Telefon ein wichtiger erster Schritt war, denn die Beratungsstelle Leben arbeitet nicht aufsuchend – Ratsuchende müssen sich proaktiv mit der Fachstelle in Verbindung setzen.
So wie der Mutter geht es vielen Eltern, daher können die Fallberater und Fallberaterinnen auf langjährige Expertise auf dem Gebiet der Deradikalisierung und des Ausstiegs aus extremistischen Szenen zurückgreifen. Neben der Angehörigen- und Umfeldberatung, arbeiten sie auch direkt mit den Ausstiegswilligen. Ein besonderer Schwerpunkt der Arbeit der Beratungsstelle Leben liegt auf der Deradikalisierung und Reintegration von sogenannten Rückkehrenden aus jihadistischen Kampfgebieten, aktuell vor allem Personen, die in das sogenannte Kalifat der Terrororganisation "Islamischer Staat (IS)" ausgereist waren und nun zurückgekehrt sind. Die Beratungsstelle Leben kann hierbei auf ihre langjährige Erfahrung zählen – teilweise meldeten sich die Personen bereits vor der Wiedereinreise nach Deutschland aus den Camps in Syrien.
Methodisches Vorgehen
Die interdisziplinär ausgebildeten Berater und Beraterinnen arbeiten in einem Distanzierungsprozess auf mehreren Ebenen: auf einer emotional-affektiven Ebene wird eine tragfähige Arbeitsbeziehung zu den Beratungssuchenden aufgebaut. In der Beratung werden die Bedürfnisse identifiziert, die eine Person zunächst durch die extreme Ideologie befriedigen konnte.
Ziel ist es alternative Ressourcen zu aktivieren und neue Lösungsperspektiven zu erarbeiten.
Claudia Dantschke, Leiterin der Beratungsstelle
Eine weitere Arbeitsebene ist die der praktischen Hilfen. "Denn,"
so Dantschke weiter, "nur wenn Menschen in einer relativen sozialen Stabilität leben, ist eine ideologische Deradikalisierungsarbeit möglich und wirkt auch langfristig stabilisierend
". Ein Berater berichtet von den Herausforderungen, die entstünden, wenn Frauen aus dem sogenannten Kalifat nach Deutschland zurückkehrten und die im Gebiet der Terrororganisation Islamischer Staat geborenen Kinder zunächst offizielle Geburtsurkunden benötigten. Entscheidend sei daher, dass die Beraterinnen und Berater eine emotional tragfähige Beziehung zu den Aussteigerinnen und Aussteigern aufbauen konnten und die lebenspraktischen Dinge geregelt sind. Erst dann könne auf der dritten, der ideologischen Ebene gearbeitet werden.
Die Beratungsstelle Leben folgt hierbei den Grundsätzen systemorientierter dialogischer Beratung: Informationen werden analysiert, neues Wissen vermittelt und durch eine Interventionsplanung praktisch umgesetzt. Hierbei werden Ansätze aus der systemischen Beratung, Biographiearbeit und Demokratieförderung eingesetzt und durch kontinuierliche Weiterbildung der Beratenden eine Qualitätssicherung nach wissenschaftlichen Standards garantiert.
Im systemischen Ansatz gehen die Beratenden davon aus, dass ein Individuum nie isoliert, sondern als Teil von aufeinander einwirkenden sozialen Systemen verstanden werden darf.
Grundsätze der Beratung
Die Beratungstätigkeit der Fachstelle basiert auf dem Grundsatz der Niedrigschwelligkeit, ist kostenfrei und für alle zugänglich. Der Grundsatz der Interkulturalität wird durch ein mehrsprachiges und multiprofessionelles Team verkörpert. All das sind wichtige Voraussetzungen für den Vertrauensaufbau zwischen Ratsuchenden und dem Beratungsteam.
Der Beraterin ist es zwischenzeitlich gelungen, mit der besorgten Mutter alle relevanten Informationen zu besprechen und einen Termin für ein persönliches Erstgespräch zu vereinbaren – die erste Hürde ist überwunden, denn von nun an steht der Familie fachmännische Hilfe zur Seite. Doch die Arbeit der Beratungsstelle wirkt über die individuelle Ebene hinaus.
Für eine pluralistische Zivilgesellschaft
Obwohl die Beratungstätigkeit individuell auf die ratsuchende Person zugeschnitten ist, leistet das Angebot der Beratungsstelle einen generellen präventiven Beitrag zum Erhalt der Demokratie. Eine gesamtgesellschaftliche Stärkung von Ambiguitätstoleranz und Wissen über Mechanismen von ideologischer Propaganda wird durch den wissenschaftlichen Output der Beratungsstelle gewährleistet.
Über das Projekt und die Autorin
Das Projekt
Die Beratungsstelle Leben ist ein Projekt des Trägervereins Grüner Vogel e.V. und wird durch das Kompetenzzentrum des Bundes für Islamismusprävention und Deradikalisierung (KID) im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) finanziert. Der Verein ist Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) und unterhält enge Kooperationsnetzwerke im In- und Ausland.
Die Leiterin der Beratungsstelle Leben, Claudia Dantschke, ist Vorstand und Geschäftsführerin des Vereins. Sie wurde im Jahr 2024 in die Task Force Islamismusprävention des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) berufen.
Weitere Informationen: www.gruenervogel.de
Die Autorin:
Franziska Frosch ist Islamwissenschaftlerin (M.A., Universität zu Köln) und systemischer Coach. Sie ist Fallberaterin bei der Beratungsstelle Leben des Vereins Grüner Vogel e.V. und Doktorandin an der Universität zu Köln.