Fallbeispiel Aussteiger , , Wie schafft man es, aus der radikal-islamischen Szene auszusteigen?

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Ein Ausstieg aus extremistischen Kreisen ist schwer: Die Kontakte zu Menschen außerhalb sind oft abgebrochen und aus der Szene selbst kommt Druck. So auch bei Marvin*. Der junge Mann hatte sich im Netz über den Islam informieren wollen und stieß auf ein Video eines salafistischen Predigers. Seine Worte faszinierten Marvin. Er recherchierte weiter und kam in Chats mit Leuten aus seiner Stadt ins Gespräch, die seine Begeisterung teilten.

Herzliches Willkommen in der Gemeinschaft

Einer der neuen Bekannten lud Marvin schon wenige Tage später zu einem Treffen in seiner Wohnung ein. Djamal war wie er Ende 20 und sie hatten sich schon online auf Anhieb verstanden. Als er Djamals Wohnung betrat, fühlte sich Marvin sofort wohl. Als er ins Wohnzimmer kam, saß dort schon eine Gruppe junger Männer zusammen. Sie begrüßten ihn wie einen alten Freund, Djamals Schwester trug Essen auf. Sie aßen, lachten und diskutierten über die Predigten eines bekannten salafistischen Predigers. Zum Abschied umarmten sich die Männer. Marvin fühlte sich aufgehoben.

Marvin verliert die Arbeit

Als Marvin wenig später seinen Job verlor, fingen ihn seine neuen Freunde auf. Die ersten Tage saß Marvin alleine in seiner Wohnung und wusste nichts mit sich anzufangen. Er fühlte sich nutzlos. Marvin hatte seinen Job gemocht. Es hatte sich gut angefühlt, etwas zu schaffen. Nun fiel ihm das morgendliche Aufstehen immer schwerer.

Der Salafismus gibt Marvin Halt

Marvins neuen Freunden fiel schnell auf, dass es ihm nicht gut ging. Sie besuchten ihn regelmäßig und versuchten, ihn aufzuheitern. Er solle beten und auf Gott vertrauen, sagten sie. Allah würde ihn belohnen, wenn er zeigte, dass er Gott liebte, dass er sich an seine Regeln hielt. Alles was zähle, sei der Erfolg bei Allah. Er werde schon sehen.

Die Worte machten Marvin Mut. Er begann seinen Tag nach den Gebetszeiten auszurichten und ging regelmäßig in die Moschee, die auch sein neuer Freundeskreis besuchte. Die tägliche Routine half ihm. Die Predigten, die Freunde und sein neuer Glaube gaben ihm Kraft. Er würde sein Leben Allah widmen. Es war nur logisch, auch gemeinsam mit seinen neuen Brüdern und Schwestern auf den Straßen Bücher über Mohammed zu verteilen. Street-Da´wa nennt man das, missionieren auf der Straße. Die Fotos, die davon durch die Presse gingen, machten Marvin stolz. Zu seiner Mutter und seinen wenigen alten Freunden brach der Kontakt in dieser Zeit völlig ab.

Druck, in den Jihad zu ziehen

Irgendwann fingen Marvins Freunde an, darüber zu reden, in den bewaffneten Jihad zu ziehen. Die Ersten packten kurz darauf ihre Sachen und reisten aus, um sich gewaltbereiten islamistischen Gruppierungen in Syrien anzuschließen. Sie schickten Bilder, die sie mit Waffen in Siegerpose zeigten. In der Gruppe lösten die Fotos Euphorie aus. Man war begeistert, lobte den Mut der Krieger und ihren Einsatz für Allah. Marvin verhielt sich in diesen Gesprächen auffällig ruhig. Krieg, das war nichts für ihn. Natürlich fiel seine Zurückhaltung auf. Bald kamen die ersten Fragen auf, wieso er nicht ausreise, kämpfe wie ein echter Mann, zeige, dass er Allah wirklich liebe. Aus der Kritik wurden Vorwürfe, aus den Vorwürfen wurden Drohungen.

Marvin steht alleine da

Marvin litt. Für ihn war das seine Familie, die ihn zurückstieß und als Ungläubigen beschimpfte. Wieso konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Er vermisste die Abende mit seinen Freunden. Wie er mit ihnen Witze riss, wie sie gemeinsam aßen und lachten. Eines Abends, nach einem heftigen Streit mit Djamal, rief er in seiner Verzweiflung seine Mutter an, mit der er seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Statt sich zu freuen, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen. Er sei ein schlechter Sohn, dem die eigene Mutter egal sei, sich jahrelang nicht zu melden, ob er überhaupt wisse, wie sie sich fühle? Marvin legte irgendwann einfach auf.

Zweifel: Was will Allah?

Marvin ging nun seltener in die Moschee. Die meiste Zeit blieb er einfach in seiner Wohnung. Er fühlte sich mutlos. Da saß er, ohne Arbeit, ohne Familie, ohne Freunde. Er hatte wieder einmal begonnen, den Koran zu lesen. Er verglich dabei den Text mit den salafistischen Regeln, die er jahrelang befolgt hatte. War der Heilige Krieg wirklich das, was Allah wollte, zu dessen vielen Namen auch der Vergebende gehörte? Marvin recherchierte weiter, las über die unterschiedlichen Auslegungen des Islam. Nachts lag er oft wach und dachte nach. Als zwei seiner ehemaligen Freunde aus der Moschee wieder einmal Sturm klingelten und gegen die Tür hämmerten, beschloss er, sich Hilfe zu holen. Er hatte genug von den Beschimpfungen und der Angst. Er wollte raus aus der salafistischen Szene.

Wie vor salafistischen Übergriffen schützen?

Als er bei der Beratungsstelle Radikalisierung anrief, erzählte Marvin seine Geschichte nicht. Er stellte sich als Tom vor und sprach über einen Freund, der raus aus der salafistischen Szene wolle. Wie konnte er sich gegen Übergriffe von Szenemitgliedern schützen? Und war es überhaupt möglich, mit so einer Vergangenheit wieder Arbeit zu finden? Schließlich gab es Pressefotos von ihm, auf denen er bei der salafistischen Street-Da´wa mitmachte. Marvin war fast sicher, dass die Beraterin wusste, dass es um ihn ging. Aber sie sprach ihn nicht darauf an. Sie hörte einfach zu und beantwortete seine Fragen.

Hilfe beim Ausstieg und neue islamische Gemeinschaft

Nach der langen Zeit des Gefühls der Einsamkeit tat Marvin das Reden gut. Die Fachfrau empfahl, sein Freund solle Kontakt zu einer Beratungsstelle vor Ort aufnehmen, die Erfahrung mit Aussteigern habe. Sie könne ihm eine Adresse schicken. Wenn er den Wohnort seines Freundes nicht nennen wolle, könne er sich die Kontaktdaten auch selbst auf der Internetseite der Beratungsstelle Radikalisierung heraussuchen. Alleine müsse sein Freund sich jedenfalls nicht durchkämpfen. Der Ausstieg sei schwer und da brauche man Unterstützung. Sie bestärkte Marvin auch in seiner Idee, eine neue muslimische Gemeinschaft für seinen Freund zu finden. Die Fachleute vor Ort hätten Kontakte zu Imamen, die Beratungsstellen in ihrer Arbeit unterstützen. Sie könnten Marvins Freund helfen.

Marvin hat inzwischen eine neue Arbeitsstelle gefunden. Auch seine neue Gemeinde gibt ihm Halt, sich auf seinem neuen Lebensweg zurechtzufinden. Seine Kontakte zur salafistischen Szene hat er mit der Hilfe der Beratungsstelle vor Ort abgebrochen.

*Der Fall Marvin ist fiktiv. Wir behandeln alle Informationen unserer Anruferinnen und Anrufer streng vertraulich, deshalb wird hier kein reales Beispiel beschrieben.